Eselin Susanne

Sie wohnt mit uns unter dem gleichen Dach, was freilich nicht bedeutet, dass sie unsere Wohnung teilt.

Denn das Dach ist die lange und hochaufragende Bedeckung eines typisch holsteinischen Bauernhauses, das auf einer Seite den Wohntrakt und auf der anderen Seite die Ställe hat. Eigentlich müssten und könnten außer ihr auch noch ein Dutzend Kühe und Kälber ihren Platz finden, aber seit das Pferd Sonja, das mit ihr Stall an Stall lebte, in die ewigen Reitgründe hinüberwechselte, gehört ihr das gesamte Stall-Areal allein.

Huftiere

Sie, das ist unsere Eselin Susanne - nicht nur nach menschlichen, sondern sicher auch nach Esels-Maßstäben (wenngleich ich darüber nicht so ganz exakt informiert bin) eine ungewöhnliche Persönlichkeit. Eine verwöhnte, kapriziöse, launische, ja, ich muss zugeben, auch eselhaft-störrische Dame, die freilich durch die Anmut ihrer Erscheinung, den Glanz und die Musterung ihres Fells, das unnachahmlich elegante Spiel ihrer Ohren und ihre unzweifelhaft wache Intelligenz schnell alle Betrachter (und nicht nur die Männer) auf ihrer Seite hat. Ich gebe zu, es hat Augenblicke gegeben, in denen ich sie zum Teufel wünschte. Andererseits aber wüsste ich nicht, was unser Melusinenhof ohne Susanne wäre. Ein Hof wie viele. Susanne verleiht ihm das Ungewöhnliche.

Es ist jetzt schon beinahe zehn Jahre her, dass Susanne zu uns kam. Damals hielt der Transportwagen eines Tierhändlers vor unserem Hof, und der Fahrer rief mich vom Schreibtisch weg: "Doktor, ich habe einen Esel für Sie!" Nun war es so, dass ich damals in meinem Dorf bereits mehrfach die Absicht geäußert hatte, die Familie durch einen Esel zu vervollständigen. Das war natürlich dem Tierhändler zu Ohren gekommen, und so stand er eines Tages mit einem Esel bei mir. Es war ein Eselherr von einigen Jahren, den ich strikt ablehnte. Ich machte dem Händler klar, dass ich einen jungen und weiblichen Esel benötigte (woraus Sie, bitte, keine falschen Schlüsse ziehen mögen). Nun also war er damit angekommen.

Die Vorliebe für weibliche Esel, für Eselstuten, ist weit verbreitet. Mit gutem Grund. Das als "I-Aaah" bekannte und damit sehr wohlmeinend verschönerte, an Elefantentrompeten erinnernde Schreien der Esel wird vom Hengst mit besonderer Intensität und Hartnäckigkeit zelebriert. Er ist überzeugt, dass er damit eine irgendwo im weiten Umkreis grasende Eselin an seine Seite rufen könne. Bis das nicht geschehen ist, schreit er. Wer im Bereich einer Villensiedlung einen Eselhengst hält, sollte den Rechtsanwalt für die sich daraus ergebenden Prozesse mit den Nachbarn sofort mit engagieren. Dennoch können auch Eselhengste sehr sympathisch sein. Nur muss man eben etwas einsam wohnen.