Die Wanderung: 25 Kilometer am Tag

Noch ist die Herde auf der Winterweide. Das ist keine Wiese, das ist ein Krüppelbirkenwald. Da liegt der Schnee nicht so dick, den scharren die Tiere mit den Hufen fort.

Unterm Schnee sind die Flechten, unterm Schnee ist auch das Laub der Birken und Weiden, vom Frost konserviert - das Winterfutter. Das Fell der Rentiere ist im Winter sehr dicht, es ist auch heller als im Sommer; und zudem schützt eine Fettschicht (bis zu dreieinhalb Zentimeter Dicke) unter der Haut das Tier vor Kälte.

Karasjok hat einen Sieben-Monats-Winter: mit viel Schnee, Temperaturen in jedem Fall unter minus fünf Grad (in Karasjok ist der norwegische Kälterekord gemessen worden: -51,4 Grad). Fast drei Monate ist es überdies dunkel: Die Polarnacht. Der Frühling dauert dann anderthalb Monate, es folgen zwei Monate Sommer, wieder anderthalb Monate Herbst ...

Huftiere
Rentier

Die Familie beginnt ihre Wanderung Ende April. Den genauen Tag bestimmt die Herde: wenn die Leittiere unruhig werden. (Beantwortet das allein schon die alte Frage, wer wen treibt? Der Lappe seine Herde - oder umgekehrt?) Die Herde wird zusammengetrieben am Skaiddevatn, Gemarkung Karasjok (doppelt so groß wie das Saarland), und zieht dann in zehn Tagesetappen durch die Finnmark, 25 Kilometer am Tag, ein paar mehr oder weniger, rastet an immer denselben Plätzen: Die dritte Rast am StabbursdaIsvatn, die fünfte am Ribbajokka, die siebente unterm Berg Skaiddemokoaivve (386 m).

Jede Familie hat eigene Rentier-Gespanne. Packtiere tragen den Hausrat. Die Herde zieht auch nachts (aber das sind schon keine Nächte mehr, Ende April) auf gefrorenem, verharschtem Schnee, wenn tagsüber die Schneedecke zu weich ist.

Am zehnten Tag wird der Mageröy-Sund erreicht, eine anderthalb Kilometer breite Meerenge zwischen dem Festland und der Nordkap-Insel Mageröy. Frauen und Kinder schiffen sich hier ein nach Honningsväg (der erste Ort nach fast zwei Wochen) und fahren weiter ins Sommerlager nach Nordmandset am Skibsfjord - mit dem Taxi. Die Herde schwimmt durch den Sund.

Das sagt sich so einfach: Die Herde schwimmt durch den Sund. Das ist ein Schreien und Gejohle, Pfeifen, Hundegekläff. Wo die Herde ins Wasser geht, widerwillig, schäumt das (kalte!) Wasser unter den Läufen. Die Männer rudern und wriggen in Nachen um die Tiere, treiben die Leitrens in die gewünschte Richtung, treiben die ganze Herde an, lauter eigensinnige Tiere; gute, aber unwillige Schwimmer.

Am anderen Ufer werden die Bullen von der Herde getrennt und abgetrieben in das Fiell am Sardnesfjord. Die Kühe ziehen noch einmal fünfzehn, zwanzig Kilometer weiter auf die Halbinsel zwischen Vand- und Tufjord.

Zwölf Tage oder knapp zweihundertfünfzig Kilometer. Die Familien und die Herde sind am Ziel. Es ist Anfang Mai. Die Kühe können nun kalben. Die Rentierkuh bringt nach siebeneinhalbmonatiger Tragezeit ein Junges zur Welt, ein einziges.

Die Sippe lebt für die folgenden vier Monate im Sommerlager hinter Honningsväg, rechts von der Touristenstraße zum Nordkap. Sie wird angegafft und fotografiert, bedauert ("Du lieber Himmel, wie primitiv!") und verkannt ("Das Baby, ist es nicht süß? Du-du-du. Dein Vater ist ein großer Mann. Deinem Vater gehört das ganze Land hier und viele hundert Rentiere").