Angst

Autor: Rhys Davies

Kaum hatte der Junge das Eisenbahnabteil betreten, als ihn ein seltsames Gefühl überkam. Nur ein Reisender saß in einer Ecke des Abteils, ein schmächtiger Mann von dunkler Hautfarbe, bescheiden und unauffällig.

Tiergeschichten

Er schien ein Inder zu sein. Ein abstoßender Geruch haftete an ihm, und noch Jahre später, wenn er zufällig diesem Moschusgeruch begegnete, überkam den Jungen wieder der Schrecken, den er an diesem Nachmittag erlebte.

Er ging an das andere Ende des Abteils und setzte sich. Der Fremde blickte auf und lächelte ihm freundlich zu. Der Junge wurde sich einer tiefen, unbestimmten Unruhe bewußt. Aber es wäre albern, fluchtartig das Abteil wieder zu verlassen, dachte er. Der Zug ruckte an und fuhr ab.

Nach dem Anrucken des Zuges verfiel der Mann in einen leisen, summenden Singsang, langsam, aber mit deutlichem Rhythmus. Seine Lippen öffneten sich nicht, nicht einmal eine Bewegung war zu erkennen, doch das Summen übertönte das Geräusch des Zuges. Es war eine einschläfernde Melodie, altertümlich; sie beschwor Bilder herauf von einer endlosen Wüste und von unendlicher Geduld. Es war ein uralter Gesang.

In dieser unheimlichen Atmosphäre konnte der Junge auf einmal nicht mehr aus dem Fenster schauen (der Zug bewegte sich mittlerweile zwischen verlassenen Feldern und dunklen, bewaldeten Hügeln); er zwang sich mit einem Ruck, dem Fremden fest ins Gesicht zu sehen. Und dieser schaute auch ihn an. Etwas zog sich in dem Jungen zusammen. Die braunen Lippen des Mannes formten sich zu einem geheimnisvollen Lächeln. Seine Augen, von dunkler, unmeßbarer Tiefe, wandten sich nicht von dem Jungen ab. Der Moschusgeruch wurde stärker. Der Junge ahnte, daß noch etwas Schreckliches auf ihn lauerte.

Plötzlich wurde das Abteil in Dunkel getaucht. Die Luft zischte am Fenster vorbei. Der Zug fuhr durch einen Tunnel. Vor Angst kauerte sich der Junge zusammen, doch mit hellwachen Sinnen. Ober das Brausen der Luft und das Mahlen der Räder erhob sich jetzt das nach wie vor fortdauernde Summen des Fremden, auf- und abschwellend, und ließ sich in heimtückischer Machtergreifung nieder. Der Junge spürte es, und er gab den Widerstand auf - duckte sich und erwartete hilflos die Drohung aus dem Dunkel. Er wußte, daß die Augen des Mannes ihn anstarrten; er glaubte, ihr triumphierendes Leuchten im Dunkeln zu erkennen. Was war dieses Geheimnisvolle, das sich unsichtbar zusammenballte?