Kannibalismus im Horst

Etwa zwei Stunden später kündigte erneutes Lahnen einen weiteren Anflug an. Ein Altvogel landete mit einem belaubten Zweig im Schnabel und mit der Hinterhälfte eines Hasen in einem Fang.

Vögel
Kaiseradler

Den Zweig ließ er auf den Horst fallen, während er die Hasenreste in den Schnabel nahm, wieder hinlegte, einen Fuß daraufstellte und dann begann, stückchenweise Fleisch mit dem Schnabel abzureißen, um es den Jungen vor die Schnäbel zu halten. Diese packten gierig zu und schlangen das Fleisch hinunter. Auch hier war festzustellen, dass ein Jungvogel dominierte. Es war derselbe, der die Blauelster verschlungen hatte. An seinem geschwollenen Kropf war das deutlich zu sehen.

Von Adlern ist bekannt, dass es nicht selten zu Kannibalismus im Horst kommt, besonders unter Stein- und Schreiadlern (Aquila chrysaetos und pomarina). Bei diesen Arten kommt meist nur ein Jungvogel zum Ausfliegen. Unter Habichts- und Zwergadlern (Hieraetus fasciatus und pennatus) ist dies weit seltener. Dort kommen meist zwei Junge zum Ausfliegen.

Der Kaiseradler steht zwischen diesen Extremen. Auch bei ihm gibt es Kannibalismus. Es ist aber auch nicht selten, dass zwei Junge ausfliegen. Diese Jungen sind jedoch untereinander viel aggressiver und futterneidischer als beispielsweise junge Habichtsadler. Hinzu kommt, dass die Vögel nicht zur gleichen Stunde schlüpfen. Der ältere dominiert dann häufig über den jüngeren, und bei geringem Nahrungsangebot tötet und frißt er ihn. Gegenwärtig sind in Spanien Versuche im Gange, diesen Kannibalismus zu unterbinden. Dadurch konnte man die Ausflugsrate erhöhen. Ob durch diese Maßnahme die Zahl der Kaiseradler auf die Dauer wirklich ansteigt, muß man abwarten.

Kaiseradler jagen im offenen Gelände. Dort erbeuten sie Säugetiere bis etwa zur Hasengröße, mittelgroße Vögel und Reptilien. In Spanien jagen sie mit Vorliebe Perleidechsen und in den Steppen des Ostens Ziesel (Citellus citellus).

Wir konnten in Spanien beobachten, dass ein Kaiseradler sogar überfahrene Tiere von einer wenig belebten Straße auflas.

Kaiseradler horsten auf Bäumen. Manchmal wird ein und derselbe Horst jahrelang benutzt, manchmal werden turnusmäßig Wechselhorste innerhalb des Reviers bezogen.

Der besetzte Horst wird mit grünen Zweigen belegt. Zur Balzzeit, manchmal auch später, kann man das Paar bei Flugspielen beobachten. Das Weiß der Schultern fällt dann besonders auf, und man hört die rauhen, wie "kjauh" klingenden Rufe. Meine Frau und ich hatten in Spanien Gelegenheit, an insgesamt fünf Kaiseradlerhorsten Beobachtungen zu machen. Alle befinden sich heute in geschütztem oder bewachtem Gelände. Es ist zu wünschen, dass die Bemühungen spanischer und ausländischer Vogelschützer Erfolg haben, damit dieser schöne Greifvogel als wichtiges Glied im Ökosystem erhalten bleibt.

Das Wichtigste ist in jedem Fall, dass der Kaiseradler voll geschützt und vor Störungen jeder Art so weit wie möglich bewahrt wird. Die Aufklärung der Bevölkerung und ein strenger Schutz der Brutgebiete sind nötig. Außerdem muß man verhindern, dass immer wieder vergiftete Fleischköder zur Fuchsbekämpfung ausgelegt werden. Diese Giftköder stellen eine große Gefahr für Geier und auch für den Kaiseradler dar, der nicht selten an Kadaver geht.