Gestohlenes Nistmaterial

Vögel

Im Gegensatz zu 1972 war das Jahr 1973 sehr trocken. Der Euphrat führte wenig Wasser. Bei Telmusa, etwa zehn Kilometer, flußaufwärts von Birecik, liegt eine Halbinsel, die bewirtschaftet wird.

Nur alle paar Jahre ist es den Bauern möglich, hier anzupflanzen. Sonst steht die Insel unter Wasser. Der Ertrag ist hervorragend. Man braucht keinen Kunstdünger und keine Mittel zur Insektenbekämpfung. Hier fand ich nun jeden Tag etwa 40 Waldrappe bei der Futtersuche. Die Ibisse stocherten im sandigen Boden; man konnte deutlich erkennen, wie sie Käfer und Larven hervorzogen und mit kurzem Ruck von der Schnabelspitze in den Schlund beförderten. Ab und zu pflückten sie auch Insekten von den Pflanzen, mehrmals fingen sie kleine Echsen.

Jeden Tag zählte ich abends mehr Waldrappe, die. auf dem Sims schliefen. Ende März waren es 53, am 10. April schon 65.

Inzwischen hatte auch der Nestbau eingesetzt. Die Vögel verteidigten paarweise ihre Plätze. Einer blieb meist zurück, während der andere Zweige, Lumpen und Stricke als Baumaterial herbeischaffte. Zuerst flogen sie noch an den Fluß, um von dort das Material mitzubringen; dann suchten sie den Brutfelsen ab. Hier lag an manchen Stellen noch viel Abfall, den die Leute von Birecik früher einmal über die Felsmauer heruntergekippt hatten und den wir bei der Arbeit am Sims nicht erreicht hatten.

Bei jeder Landung begrüßten sich die Vögel. Der Wartende duckte sich auf den Fels und rief mit aufgerichtetem Schopf und nach oben geworfenem Schnabel. Schon von weitem erkannten sich die Partner. Der Landende drängte sich hinter den Sitzenden und übergab von dort, sich über Hals und Schulter des Partners beugend, das Nistmaterial. Aber während beide Vögel an der einen Seite des Nestes bauten, wurde ihnen von hinten das Material schon wieder weggestohlen. Ja, einige Waldrappe flogen gar nicht mehr zur Materialsuche; sie warteten auf jede Gelegenheit zum Stehlen.

Ende April konnte ich Zwischenbilanz ziehen. Insgesamt wurden in 29 Nester etwa 87 Eier gelegt; 26 Eier gingen später verloren.

Am 1. Mai erlebte ich das Ausschlüpfen des ersten Jungvogels. Am 20. Juni konnten alle Jungen fliegen: 21 waren übriggeblieben. Gemeinsam mit ihren Eltern kreisten sie über der Stadt, gingen auf Futtersuche und schliefen nachts auf dem Sims.

Zuviel Arbeit, zuviel Aufwand für 21 Jungvögel? Im Jahr 1974 waren es schon 64! In den beiden folgenden Sommern - also auch 1976 - gingen die Zahl der brütenden Paare sowie die Zahl der Jungen allerdings wieder zurück. Das Schutzprojekt für den Waldrapp wird vom türkischen Nationalpark-Department in Ankara weitergeführt, und dort hat man leider nicht genügend Geld und noch wenig Erfahrung. Ein zweites Problem kommt hinzu: Die türkischen Waldrappe sind bereits recht alt; sie werden nur noch in den nächsten zwei bis fünf Jahren brüten können. Es fragt sich, ob bis dahin genügend Nachwuchs da ist.