Seiltänzerin von Kirchturm zu Kirchturm

Menschen können ein Tierverhalten immer dann am besten begreifen, wenn sie es - ohne zu verfälschen - auf menschliche Maßstäbe beziehen.

So hat man sich eine Kreuzspinne, die ihr Netzgerüst anlegt, als Seiltänzerin vorzustellen, die von Kirchturm zu Kirchturm ein Seil im Winde flattern läßt, bis es sich gegenüber festgeklebt hat und die Überquerung des Abgrunds erlaubt. Dann lässt sich die Künstlerin von der Mitte des Seils plötzlich an einer selbstgesponnenen Schnur auf den Marktplatz hinunter, macht sie dort fest, klettert wieder zur Hälfte daran hoch, klebt eine neue Schnur an, rennt ganz hoch zur Seilmitte, biegt nach rechts ab und befestigt dort das andere Ende der Schnur. Ein Wunder ist geschehen: diese Hoch- und Schleppseilakrobatik hat die erste Speiche des künftigen Radnetzes ergeben.

 

Spinnen
Spinnennetz
So entsteht das Netz der Kreuzspinne. Auch andere Spinnen stellen derartige Radnetze her, und manche sind äußerst stabil. Im Südpazifik - auf den Fidschi- und Salomoninseln - lassen sich die Eingeborenen durch Spinnen der Gattung Nephila sogar Fischernetze fabrizieren. Solch ein Netz, das die Spinne in einen Bambusreifen webt, kann fast zwei Kilo Fische tragen. Einige Vertreter dieser Gattung sollen so kräftige Netze herstellen, dass ein Mensch, der versehentlich hineinläuft, deutlichen Widerstand spürt.

Unsere Zeichnungen verdeutlichen den Bau eines Kreuzspinnenradnetzes. Ich darf die Technik hier noch einmal - diesmal ohne menschlich-artistische Bezüge - erklären: Die Spinne erklettert einen Zweig, dreht sich in den Wind, hebt die Hinterleibspitze und schießt einen flatternden Fangfaden aus. Sie wartet, bis sich dieser Faden irgendwo verfangen hat, und läuft, die hauchdünne Brücke sofort mit neuem Faden verstärkend, zu diesem neuen Festpunkt hinüber. Dort kehrt sie um, geht zur Fadenmitte zurück und lässt sich hier an einem spontan gesponnenen Faden zum Boden herab. Dann wird festgezurrt und etwas nachgespannt, so dass eine Grundform wie ein Y entsteht. An ihrem Senkrechtpfeiler klettert die Spinne nun bis zur Mitte empor und klebt einen neuen Faden fest, den sie locker in einer ihrer Fußklauen hinter sich herzieht. Sie läuft hinauf und in den Ast ihres Ur-Fadens, um dort die erste Speiche des Radnetzes anzuheften. Diesen Weg geht sie wieder zurück und beginnt nun immer wieder von der Mitte des ersten Senkrechtfadens aus die Herstellung neuer Speichen. Das Zentrum dieses Rades wird dann mit einigen Spiralen verstärkt.

Bis hierher war die Sache zwar mühevoll, aber für den Zuschauer leicht begreiflich. "Was nun", wird man fragen, "hängt die Spinne nun einfach ihre Spirale ins Netzgerüst ein, und fertig ist die Laube"'

Aber so schlicht geht es hier nicht zu. Die etwa dreißig Speichen des Rades sind zwar ganz gut befestigt, doch fehlt ihnen, bevor der wertvolle Klebfaden spiralförmig eingezogen wird, doch noch die richtige Stabilität. Denn die Klebfäden dürfen später - selbst bei starkem Wind - nicht durchhängen und sich gegenseitig verkleben. Also baut die Kreuzspinne ein Zwischengerüst in Spiralform, und zwar aus nichtklebendem Faden. Erst dann beginnt sie, von außen nach innen, die Klebespirale einzuhängen.

Diese Klebefäden sind normale Spinnfäden - nur mit Leim beschichtet. Die sechshundert kleinen Spinnröhrchen im Hinterleib der Aranea führen nämlich nicht nur zu den Seidendrüsen, sondern auch noch zu einer Leimfabrik, in der über zwei Drüsen der austretende Faden mit Klebeflüssigkeit bestrichen wird.