Bevölkerungsexplosion mit sozialem Stress

Andere bemühten Alfred Wegeners Theorie von der Kontinentalverschiebung, nach der die Kontinente einmal eine geographisch-geologische Einheit waren und in Jahrmillionen auseinander"drifteten", Grönland weg von der skandinavischen Halbinsel.

Die Lemminge machten sich also bloß auf den Weg zu früheren Futterplätzen. (Und dass es in Nordkanada und in Alaska den artverwandten Lemmus trimucronatus gibt, stützte diese Theorie; Nordamerika driftete von Grönland weg. Eine weitere Annahme wurde nachgeschoben, 1920 erst, dass nämlich die Lemminge in der Zwischeneiszeit nach Skandinavien eingewandert seien, an eisfreien Plätzen der West- und Nordwestküste Norwegens die letzte Eiszeit überlebt und sich erst danach in die Berge getrollt hätten.)

Nagetiere

Dies alles aber war zu wissenschaftlich, zu kompliziert zu erklären. Es war auch nicht mehr rätselhaft, eher enttäuschend, am Ende gar logisch. Die Leute indes, die Lemminge ins Meer gehen, hinausschwimmen und ersaufen sahen, wollten einen Mythos. Den fand man: den geheimnisvollen Massenselbstmord der Lemminge. Das "In den eigenen Tod verliebt sein" der Lemminge.

Die Todessehnsucht (die Sigmund Freud dem Menschen zuschreibt). Das ist so schaurig schön, so vielseitig verwendbar in Leitartikeln, das ist ein so bildhafter Vergleich, den hört und liest man bis auf diesen Tag.

Es ist bloß alles nicht wahr.

Lemminge, die harmlosen Choleriker, vermehren sich schnell. Der erste Wurf wird noch im Winterlager gesetzt: nach drei Wochen Tragzeit bis zu fünf Jungtiere. Der zweite Wurf folgt im Sommer: bis zu zehn Stück. Im darauffolgenden Jahr steigert sich die Zahl der Würfe. (Weibliche Lemminge sind im allgemeinen im Alter von vier Wochen geschlechtsreif, der Frühjahrswurf kann im Herbst längst eigene Junge haben.)

Das dritte und das vierte Jahr bringen noch einmal eine Steigerung: bis zu acht Würfe. Die Weibchen sind praktisch ständig trächtig. Nach vier Jahren lassen sich die Nachkommen eines einzigen Pärchens mit zehn- bis zwanzigtausend errechnen.

Das ist das Ende des Einzelgängerdaseins. Lemminge überall. Knurrende, pfeifende, keckernde Lemminge, die sich - zwangsläufig jetzt - gegenseitig zu eng auf den Pelz rücken, die sich auf die Nerven gehen, die sich die Wurzeln vor der Nase wegfressen.

"Überpopulation" sagen die Biologen. Ins Menschliche übersetzt, auf vergleichbare Vorgänge in unserer Welt übertragen: eine Bevölkerungsexplosion. Sozialer Stress, sozusagen.

Keiner gibt den Marschbefehl. Es wird kein Führer gewählt. Niemand bestimmt die Stärksten, Stabilsten, die daheimbleiben müssen, um "die Art zu erhalten". Die Lemminge ziehen schließlich nicht in den Krieg. Die Lemminge wandern. Nervös, gereizt. Nicht alle wandern, aber fast alle. Wandern immer geradeaus. Über Straßen, Tausende werden da jeden Tag totgefahren. Durch Flüsse, Tausende ersaufen. Sie sind wie blind, der Zug stockt nie, und keines der Tiere wird jemals zurückkommen; sie sind verrückt geworden, irgendwie. (Tatsächlich glauben einige Wissenschaftler, dass eine um ein Vielfaches vermehrte Produktion von Steroidhormonen die Gefrierschutzsubstanz im Blut der Lemminge verändert und so - auch ohne Gefahren von außen - zum Tode führen würde.)