Gestaltwahrnehmung lässt Schönheit erkennen

"Erziehung" ist ein sehr weiter Begriff, und ich will hier nur von der Erziehung zu einer einzigen Fähigkeit sprechen, zu jener nämlich, die uns von der Natur zur Wahrnehmung des Guten und des Schönen mitgegeben ist. Die Leistung, von der ich spreche, heißt in der Psychologie Gestaltwahrnehmung. Auf Gestaltwahrnehmung beruht es, wenn wir eine Melodie wiedererkennen - gleichgültig in welcher Tonart und auf welchem Instrument sie gespielt wird. Auf Gestaltwahrnehmung beruht es, wenn wir ein bekanntes Gesicht wiedererkennen, selbst wenn es uns in einem vereinfachten Bild, ja selbst in einer Karikatur gezeigt wird. Auf Gestaltwahrnehmung beruht es aber auch, wenn wir die Schönheit eines Musikstückes, eines Bauwerks oder auch eines Naturproduktes wie einer Blume oder eines Schmetterlings empfinden.

Diese Fähigkeit bedarf aber der Übung, des "Trainings" und der speziellen Erziehung. Die Harmonie des "wohltemperierten Klaviers" zu empfinden bedarf der Erziehung von Kindheit an, die an sich ebenso harmonische arabische Musik klingt in unseren Ohren unverständlich, chaotisch, und dem Araber geht es mit unserer Musik ebenso.

Stufen verschieden hoher Integration

Ein Mensch, der nie wahrhaft Schönes gesehen oder gehört hat, ist für die Schönheit unempfänglich, und hässlichstes Menschenwerk imponiert ihm mehr als die größten Schönheiten der Natur, mit der er ja nie in enge Berührung gekommen ist. Er hat kein Organ für die Naturschönheit - sowenig wie der Durchschnittseuropäer für die arabische Musik.

Wenn ich hier von der Schönheit von Lebewesen und Landschaften auf der einen Seite und von Kulturprodukten auf der anderen in einem Atem rede, hat das seine guten Gründe. Auch der Mensch und die Erzeugnisse des menschlichen Geistes sind nämlich Ergebnisse der Evolution, der natürlichen Entwicklung, so einzigartig die Besonderheit des menschlichen Geistes ist. Worin sie liegt, lässt sich in wenigen Worten sagen: Von virusähnlichen Vorlebewesen bis zu den anthropoiden Vorfahren des Menschen war die Erbmasse, das Genom, das einzige Organ, mittels dessen das Lebendige Information - "Wissen" - sammeln und behalten konnte. Mit der Menschwerdung ist durch die Entstehung des begrifflichen Denkens und der Wortsprache ein nie dagewesener neuer Mechanismus entstanden, der ebenfalls Wissen zu sammeln, zu erhalten und von Generation zu Generation weiterzugeben vermag. Es ist keine Übertreibung, zu sagen, dass damit eine neue Art von Leben, eben das geistige Leben der Menschheit, in die Welt getreten ist. Durch die Weitergabe von Information an gleichzeitig lebende Menschen entstand jene Gemeinsamkeit des Wissens, Könnens und Wollens, die wir als menschliche Kultur bezeichnen.

In der kulturellen Tradition des Menschen erhält eine ethisch und ästhetisch geschulte Gestaltwahrnehmung neue Funktionen. Sie befähigt uns, in der uns umgebenden Natur Stufen verschieden hoher Integration wahrzunehmen, die zweifellos Schritten der Evolution, des großen organischen Werdens, entsprechen. Wir empfinden den Unterschied zwischen niedrigeren und höheren Lebewesen, und das Wesentliche an dieser Unterscheidung liegt darin, dass wir in jedem Schritt des schöpferischen Werdens einen Wertzuwachs erblicken. Wenn ich Sie etwa auffordern wollte, einen Salatkopf, eine Fliege, einen Fisch oder einen jungen Hund vom Leben zum Tode zu befördern - natürlich nur im Gedankenexperiment -, so werden Sie sicherlich bei diesen verschiedenen Lebewesen sehr verschieden starke Tötungshemmungen empfinden. Wenn Sie es etwa ebenso leicht finden sollten, das Hundekind totzuschlagen wie die Fliege, dann begehen Sie bitte bei nächster sich bietender Gelegenheit Selbstmord, denn Sie sind dann ein gemeingefährliches Ungeheuer.