Satt von einem halben Rehschlegel
Weil es den Luchs bei uns seit über hundert Jahren nicht mehr gab, waren alle Beschreibungen mehr als lückenhaft. Um so wertvoller sind die Beobachtungen, die während der letzten Jahre im Bayerischen Wald gemacht wurden und den "blutdürstigen" Luchs in neuem Licht erscheinen lassen.
Dem Luchs genügen pro Tag ein bis zwei Kilo Fleisch. Er wird satt von einem Hasen, einem jungen Fuchs oder einem halben Rehschlegel. Ein so geartetes Tier wird sich, wenn man es nicht in die Enge treibt, nie auf einen Menschen stürzen - ebensowenig, wie eine Hauskatze das tut. Aber im Gegensatz zur Katze ist der Luchs noch obendrein sehr scheu. Er meidet den Menschen, wo er kann. Mit Recht: Schließlich hat der Mensch ihn in Mitteleuropa schon einmal ausgerottet.
Dabei haben Luchse eine ruhmreiche Vergangenheit. Der Karakal - eine Luchsart, die in Afrika lebt - war schon in der Antike bekannt. Sogar auf ägyptischen Denkmälern kann man ihn sehen. Die alten Nilvölker richteten ihn zur Jagd ab. Und Marco Polo - der berühmte Weltreisende des 13. Jahrhunderts, der aus China unter anderem die Spaghetti nach Italien brachte - berichtet, dass der mongolische Großkhan sich neben Leoparden und Löwen auch viele Luchse als Jagdhelfer gehalten habe. In Asien und Nordafrika galt der Luchs als edles Tier; im Abendland traute man ihm nicht über den Weg.
Die alten Griechen glaubten, aus dem Urin des Luchses entstehe Bernstein, und das Tier sei so neidisch und mißgünstig, dass es seine Hinterlassenschaft sorgfältig verscharre, damit niemand den Bernstein finden könne. Der Schweizer Arzt und Naturwissenschaftler Konrad Gesner schrieb im 16. Jahrhundert schaudernd: "Kein Tier ist, das so ein scharfes Gesicht habe als ein Luchs. Denn sie sollen auch mit ihren Augen durchdringen die Dinge, so sonst nicht durchscheinbar sind, also Wände, Mauern, Holz, Stein und dergleichen. Dagegen so ihnen durchscheinbare Dinge fürgehalten werden, so hassen sie ihr Gesicht und sterben davon."
Aber viel häufiger als am Haß aufs eigene Gesicht starben die Luchse am Haß der Menschen, die sie verfolgten. Vor allem die Bauern unserer Breiten hielten den Luchs für einen wahren Teufel. Aber die Angst vor dieser Großkatze und ihrer vermeintlichen Gefährlichkeit war nicht der einzige Grund, der zur Ausrottung führte. Auch das schöne Fell hat vielen Luchsen den Tod gebracht. Luchspelze waren schon immer etwas Besonderes. Und noch einen dritten Grund gab es: Luchsbraten galt als Delikatesse. Beim Wiener Kongreß zum Beispiel, 1815, stand in vornehmen Häusern oft gebratener Luchs auf der Speisekarte.