Wer meckert da?

"Ziege" ist unter Menschen ein Schimpfwort. Es könnte eher ein Kompliment sein. Denn Ziegen sind liebenswürdig, charmant und sehr charaktervolle Persönlichkeiten.

Hauszíege
Hauszíege auf Sardinien
Huftiere

Merkwürdig, wie wenig Glück wir Menschen mit unseren Tiervergleichen haben. Esel sind nicht dumm, Tauben nicht sanft und Pfauen nicht eitler als andere Tiere. Was gar die Ziegen anbelangt, als welche man gewisse exaltierte Weiblichkeiten maliziös zu titulieren pflegt: Die Damen könnten froh sein, wenn sie den liebenswerten Charme von Ziegen besäßen. Ziegen sind also, auf Menschen bezogen, durchaus keine "Ziegen", sondern wahre Persönlichkeiten, und das unterscheidet sie von den Schafen, mit denen sie oft in einem Atem genannt werden.

Als ich vor ein paar Jahren in Norwegen unterwegs war und mit dem Wagen durch ein einsames Tal zwischen Otta und dem Geirangerfjord fuhr, kam mir in einer Kurve plötzlich eine Herde Ziegen entgegen. Sie waren von jener grau-braun-bunten Rasse, wie man sie in Norwegen überwiegend trifft. Rund 70 000 gibt es dort von ihresgleichen, und aus ihrer Milch wird insbesondere im Umkreis von Röldal der landesübliche gekost (Ziegenkäse) hergestellt, dessen erdnussartig braune Farbe manchem Skandinavienfahrer in Erinnerung ist. Ziegen also spielen in der norwegischen Landwirtschaft keine so untergeordnete Rolle wie bei uns.

Jämtlandziegen
Jämtlandziegen

Um so mehr überraschte es mich, dass diese 50 oder 60 Ziegen, die da des Weges zogen, ohne Begleitung waren. Es gab keinen Ziegenhirten. Offensichtlich hatten die Ziegen ihren Weg wie ihre Zeit im Kopf. Dass ihnen mein Wagen entgegenkam, verblüffte sie in keiner Weise. Gelassen kamen sie auf mich zu. Ich hatte das Fenster heruntergedreht, um sie besser betrachten zu können. Jede der Ziegen entschied sich für den Weg am Fenster vorbei und warf im Vorüberwandeln einen Blick zu mir hinein. Die eine oder andere blieb stehen, steckte ihre Nase herein und schnupperte an meiner Hand. Zwei oder drei riskierten sogar, mit ihrer rauhen Zunge über meinen Handrücken zu lecken. Dabei vermittelte ihr Meckern den Eindruck, als ob sie sich über den verrückten Touristen amüsierten, der durch dieses einsame Tal fuhr. Soviel aber wurde ganz deutlich: Keine der Ziegen zeigte Angst und keine hatte gegenüber dem Menschen irgendein Minderwertigkeitsgefühl.

Diese so selbstverständlich zur Schau getragene Haltung im Stil einer gewissen Gleichberechtigung begegnete mir auch bei der weißen Ziege, die in Schleswig-Holstein an der schmalen Zufahrt zu meinem Haus graste. Ein Ziegenbesitzer, der keine eigene Weide besaß, hatte seine "Schmalspurkuh" hier angepflockt, damit sie vom Wiesenrain und dem Laub der Knicks (sprich: Hecken) eine saftige Mahlzeit habe. Jeden Morgen begegneten wir uns, wenn ich zum Brötchenholen fuhr. Als ich eines Tages zurückkam, stoppte ich. Die Ziege kam interessiert näher und nahm gern das Brötchen, das ich ihr anbot, um es zu verspeisen.

Ich hätte das nicht tun sollen. Denn als ich am nächsten Morgen vom Bäcker zurückkam - vorher hatte sie mich ohne weiteres passieren lassen -, stand die Ziege mitten auf der Straße, soweit ihre Kette es zuließ. Ich hupte. Die Ziege meckerte kurz. Ich hupte erneut. Die Ziege blickte mich nur an und blieb stehen. Was blieb mir übrig? Mit einem Brötchen erkaufte ich mir die Durchfahrt. Ich wusste nur zu gut, was die Folge sein würde. Solange die Ziege an verschiedenen Stellen dieses Weges angetüdert war, wie das in Holstein heißt, ließ sie sich keinen Morgen ihr Brötchen entgehen. Sie blockierte die schmale Straße, bis sie bekam, was ihr nach ihrer Ansicht zustand. Verstehen Sie jetzt, warum ich Ziegen als Persönlichkeiten bezeichne?