Schleiertänzerinnen
Eigentlich sind sie gar keine Fliegen. Sie haben zarte Netzflügel, goldene Augen und Appetit auf Blattläuse.
Der Frühling war gekommen. Die Märzsonne schien warm. In windgeschützten Winkeln saßen die ersten Fliegen an der Hauswand. Mein zehnjähriger Neffe war zu Besuch. Ich schickte ihn auf den Dachboden, um die Fenster zu öffnen; die feuchtkalte Winterluft sollte aus dem Haus.
Da der Raum unterm Dach eine Fundgrube für jeden Jungen war, hatte ich nicht damit gerechnet, ihn so schnell wiederzusehen. Doch ich hörte seine Schritte auf der Treppe, kaum dass er oben gewesen war. Und er hatte es sehr eilig!
Aufgeregt berichtete er, er sei gar nicht dazu gekommen, die Fenster zu öffnen, denn an ihnen schwirre es nur so von zarten, durchsichtigen Tierchen. Ich konnte mir denken, was da an den Fenstern auf dem Dachboden flog - sicher wieder die Florfliegen, die in jedem Jahr am Ende du Winters dort zum Vorschein kamen. Und so war es auch. Ich nahm meinen Neffen bei der Hand und stieg mit ihm hinauf. Einige der Tierchen saßen ruhig an den Fensterrahmen; man konnte sie genau beobachten. Die Flügel hatten sie dachförmig über den zarten grünen Leib gelegt. Diese Florfliegen - Chrysopa vulgaris nennt sie der Wissenschaftler - gehören eigentlich gar nicht zu den echten Fliegen. Diese haben - genau wie Mücken - nur zwei Flügel. Unsere Florfliegen haben aber vier Flügel. Das Netzwerk der Flügeladern ist sehr fein und dicht. Daran erkennt man die Netzflügler, eine Insektengruppe, zu der außer unseren Florfliegen auch die Ameisenlöwen, Schmetterlingshafte und andere Insekten gehören.
Dem zarten Netzwerk der Flügel verdanken die Florfliegen ihren Namen. Aber wer kennt heute noch das Wort Flor? Das Lexikon sagt dazu "dünner Seidenstoff" oder "Schleier". So sehen diese Tierchen auch aus, wie ein aus vielen Schleiern gestaltetes lebendiges Kunstwerk; ihr Flug ist ein Schleiertanz. Die Augen der Tierchen sind leuchtend goldene Kugeln, nach denen man sie auch "Goldaugen" nennt.