Die Spinnenmutter als Kinderomnibus
Im Spätsommer, meist im Laufe des Septembers, wird die Tarantelin zur "Vollmutter".
Jetzt bricht der Kokon auseinander, und es entquellen ihm um die zweihundert Kinder - so etwa, wie sich in der Schulpause blitzartig der Schulhof füllt. Der nun leere Kokon wird weggeworfen. Man könnte erwarten, dass sich jetzt jedermann freundlich verabschiedete und seiner Wege ginge. Doch die zweihundert Jungtaranteln wissen es besser. Sie kommen angerannt und beginnen, an jenen griffigen Kletterstangen aufwärts zu entern, die vor ihnen stehen. Die Mutter bleibt wie angewurzelt stehen und bietet ihre Beine dar. Mit der Lupe (oder auf dem Makro-Foto) sieht man es deutlich: die kleinen, völlig ausgebildeten Taranteln sitzen nun dichtgepackt in Reihen und Lagen, als lebender Überzug ineinanderverkrallt, auf dem Rücken ihrer Mutter. Sie werden sich nun lange Wochen hier aufhalten, ohne das geringste zu sich zu nehmen. Bei den Diskusfischen weiden die Jungtiere wenigstens den Nährschleim vom Leib der Mutter ab - bei Tarantels gibt es nichts dergleichen. Der erste Instinkt, der diese Spinnen beherrscht, muß heißen: Festhalten um jeden Preis, ja nicht herunterfallen!
Denn die Mutter, die nun zum Kinder-Omnibus umfunktioniert ist, rumpelt ganz schön durch die Gegend. Auch kann sie nicht immer ihre jetzige Höhe einschätzen, so dass bei niedrigen Durchfahrten manchmal der obere Teil der Fahrgäste abrasiert wird und in vollem Lauf hinterdreinrennen muß, um aufs neue über die Mutterbeine nach oben zu klettern.
Die Tarantelin trägt ihre Kinderkompagnie mit einer Geduld ohnegleichen. War sie jedoch beim Kokon noch sehr engagiert, so entwickelt sie als Omnibus zunehmend Gleichgültigkeit. Später wird der Lycosa der Kinderzirkus ausgesprochen lästig, wenn sie auch noch weit davon entfernt ist, die eigene Brut als willkommene Nahrung anzusehen. Bevor dies eintritt, nehmen die Kinder Abschied und stehlen sich in Scharen davon. Die Mutter aber schaltet nun wieder ganz und gar um und wird zu jener Giftnudel, vor der es jedem Käfer graust.