Gold in der Kehle
Nachtigallen mit ihrem süßen Gesang fesseln seit dem Altertum Beobachtungsgabe und Phantasie der Schriftsteller.
"Komm, Trost der Nacht, o Nachtigall!" forderte Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen in seinem "Abenteuerlichen Simplizissimus". Er hat im 17. Jahrhundert wohl noch genau gewusst, was das Wort "Nachtigall" bedeutet. Es besitzt ja zwei Bestandteile, die "Nacht" und das Zeitwort "gellen". Das hieß früher soviel wie "singen", während es heute eine stark abschätzige Bedeutung hat. Unser deutscher Name meint also "Nachtsänger". Offensichtlich ist schon unseren Vorfahren aufgefallen, dass die Nachtigall im Gegensatz zu den meisten Singvögeln nicht nur zwischen Sonnenaufgang und -untergang singt.
Damit ist der Inhalt des Nachtigallennamens eine Naturbeobachtung und nicht, wie bei vielen Vogelnamen, eine lautmalende Wiedergabe ihres Gesangs. Zwar hatte schon der griechische Komödiendichter Aristophanes versucht, den Gesang der Nachtigall mit Worten nachzubilden, aber sein "Tjo tjo tjo tjo tjo tjo tjotinx" hat auf die klassischen Namen für unseren Nachtsänger nicht abgefärbt. Offenbar nahmen die Menschen den unscheinbaren Vogel, der Gold in der Kehle hat, viel zu ernst; er stand ihnen zu nahe, als dass sie ihn nur äußerlich durch das Klangbild seiner Stimme charakterisiert hätten. Heinrich Heine, der deutsche romantische Dichter, versuchte, den Gesang mit "züküht" wiederzugeben. Aber bei diesem einzelnen Versuch in unserer Sprache ist es geblieben.
Im allgemeinen überwog zur Heine-Zeit die idyllische Vorstellung vom süßen Gesang der Nachtigall. Das zeigen die 34 Zusammensetzungen mit den Namen dieses Vogels, die das Grimmsche Wörterbuch aufzählt - alle aus der Zeit der Romantik und heute kaum noch gebräuchlich. Doch in den Äußerungen der deutschen Klassiker wird manchmal auch die antike Vorstellung deutlich, das Lied der Nachtigall sei ein Klagelied (Goethe: "Traurig schlägt die Nachtigall") oder ein Todeslied (Klopstock: "Nachtigall, flöte mir Sterbegesang").