Symbol der Götter und der Herrscher
Der Adler ist in der griechischen wie in der deutschen Sprache ein männliches Wesen, im Lateinischen dagegen von weiblichem Geschlecht.
Und das, obwohl ihn gerade die Römer zum unumschränkten Symbol für ihre männlichmilitärischen Tugenden, Leistungen und Erfolge machten. Eines wird jedoch nie bestritten, weder in der Gegenwart noch in der Vergangenheit, weder bei den europäischen noch bei den orientalischen Völkern, weder bei Christen noch bei Heiden: Der Adler ist das göttliche Tier schlechthin. Er allein kann sich zu den Höhen aufschwingen, in denen man sich den Sitz der Götter vorstellt. Und wenn er von diesen Höhen niederschwebt, erscheint er wie der Sendbote des Allerhöchsten. Gönnt er den Menschen seinen Anblick, so lässt er sie erschauern vor der Majestät seines Blickes, der Gewalt seines Flügelschlags und der Kraft seiner gespreizten Fänge.
So ist er bei den alten Indern das Symbol der Götter Indra und Wischnu. Der aztekische Sonnengott erscheint in seiner Gestalt, der phönizische Gott Baal hält ihn sich als Lieblingstier. Ebenso genießt er die besondere Liebe des griechischen Göttervaters Zeus wie auch dessen römischen Nachfahren Jupiter. Wie Zeus verwandelt sich der germanische Gott Odin bei Gelegenheit in einen Adler. In der Bibel steht der Vogel für eine Vielzahl christlicher Tugenden. Im besonderen ist er das Symbol des Evangelisten Johannes, des Lieblingsjüngers Christi.
Auch die weltlichen Herrscher bemühen sich um seine Gunst. Sie sehen in ihm ihre Macht verkörpert. Adlersagen spielen im Epos des sumerischen Königs Gilgamesch ebenso eine Rolle wie im Leben Alexanders des Großen. Ganze Dynastien stellen sich in den Schutz dieses mächtigen Tieres - so die des phrygischen Königs Gordios, der ägyptischen Ptolemäer und der persischen Achämeniden.
Wenn wir historische Ordnung in diese Vielfalt bringen, so ist sicher, dass der Adler als Fabelwesen aus dem Orient zu uns gedrungen ist. Und zwar einmal durch Alexander den Großen, der auf seinem Zug nach Indien den Adler sofort als Symbol für sich in Anspruch nahm und ihn in Europa als Münz- und Wappenzeichen einführte, Zum anderen durch Octavianus, den späteren Kaiser Augustus, der ihn aus Ägypten mitbrachte und zum kaiserlichen Wappen des römischen Imperiums machte.
Von griechischen Göttersagen um den Adler sind uns besonders die von Ganymed und Prometheus bekannt. Göttervater Zeus, dem auch die männliche Schönheit Eindruck machte, erblickte auf Erden den jungen Ganymed und war von seiner Erscheinung so entzückt, dass er sich in einen Adler verwandelte, Ganymed zu sich auf den Olymp holte und ihm das Amt des himmlischen Mundschenken übertrug.
Ihn und Prometheus hat Goethe in zwei Gedichten verewigt. Prometheus, der Halbgott, dessen Herz für die Menschen schlug, hatte den Göttern das Feuer gestohlen und wurde von ihnen dafür zur Strafe an einen Felsen des Kaukasus geschmiedet. Dort besuchte ihn jeden Tag der Adler des Zeus und fraß ihm etwas von seiner Leber ab, die ihm aber - nach dem sadistischen Willen des göttlichen Zeus - des Nachts wieder nachwuchs. Erst der starke Herakles erbarmte sich des Angeschmiedeten und befreite ihn von seinen Fesseln.